Montag, 1. April 2013

2013 – Das Jahr in dem wir erwachten

Aus den Erinnerungen eines Waldschrats (Brief an Rudi zum Jahresende 2112)

Mein Lieber Rudi,
jetzt habe ich, in meinem 155.Lebensjahr endlich die Ruhe gefunden, Dir zu schreiben. Die immer besinnliche Zeit zum Jahreswechsel will ich nutzen, um Dir Mut zu machen. Du sollst sehen, wie leicht es ist, auch die schwersten Prüfungen anzugehen und zu bestehen.
Ihr habt es jetzt mit Völkerwanderungen zu tun. Ganze Völker sind unterwegs oder werden demnächst aufbrechen, weil die geänderten klimatischen Verhältnisse sie dazu zwingen. Doch fürchte Dich nicht. Du mußt nur genau hinsehen und hinhören; sei achtsam. Du mußt nur mitfühlen, um die Lage richtig einzuschätzen.
Veränderungen, Rudi, finden einfach nur statt. Sie haben keinen Vorlauf, keinen Übergang. Wenn es soweit ist, mußt Du nur losgehen. So wie wir es vor einhundert Jahren getan haben. Davon will ich Dir schreiben.

Die Erkenntnis – 2012: Der Bürgerthaler war endgültig in der Sackgasse gelandet

Was liefen dort Anfang des letzten Jahrhunderts für Gestalten auf der Erdoberfläche herum. Wir, die Waldschrate und vor allem unsere Verwandten, die Erdmännchen, die hörten über ihren Köpfen ein immer aufgeregter werdendes Getrampel. Besonders störend für ihre Nachtruhe war, daß die da oben immer mehr auf derselben Stelle traten und stampften. Dabei sangen sie vollkommen unverständliche Lieder, die immer mehr in ein Blöken übergingen. So wie beim Hornvieh, wenn der Bauer nicht zum Melken kommt: Muh-HU-Huhhhh … Einfach schrecklich! Von dreien dieser Tanzgruppen will ich Dir genauer berichten.

Die Gutbürgerlichen

Diese Gruppe war sozusagen der Kern der Herde, die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Sie waren die Kinder, Enkel und Urenkel der Generation, die den Weltkrieg losgetreten hatte. Sie waren allerdings der Ansicht, sie hätten gewonnen. Nun, wir wissen genau, sie waren wie ihre Väter und (Ur)Großväter eigentlich nichts weiter, als die größten Nieten und Versa­ger aller Zeiten.
Das ganz besondere Merkmal dieser Gruppe, ihr Markenkern (solche Floskeln mit der geistigen Tiefe eines möglichst kurzen Lexikoneintrages waren damals sehr en vogue) war, daß sie stets irgendjemanden brauchten, der „ihnen das macht“. Sie konnten nichts, aber auch rein gar nichts selbst. Ihre Vorfahren mußten selbst zur berühmten Stunde Null 1945 getragen werden.
Sie waren politisch eigentlich nicht mehr lebensfähig. Sie brauchten Gefangene, Fremdarbeiter oder Leiharbeiter (und natürlich alle ehemaligen DDR-Bürger), die ihnen erstens die Arbeit machten; sie selbst konnten kaum noch Messer und Gabel beim Essen halten. Zweitens brauchten sie unbedingt jemanden, auf den sie herabsehen konnten. Das war gewissermaßen das Fundament ihrer Gesellschaft: Das auf andere herabsehen und sich selbst zu ständigen Weltmei­stern, zur Elite und zu höchst kreativen Erfindern erklären (Was nicht alles in unserem Lande im 20. Jahrhundert  erfunden worden und dann von bösen Onkeln und Tanten andernorts zu Geld gemacht worden war: Fax, Walkman und Computer zum Beispiel).
Sehr, sehr wichtig, ja überlebenswichtig für diese Leutchen war, daß sie als politische Führer stets nur solche Herdenteile erwählten, die unbedingt weniger können mußten als sie selber. Ein einzigartiges Phänomen, ein Unikat im Universum. So war es damals sehr leicht, Reichs- und Bundeskanzler zu werden. Man mußte immer nur behaupten, man sei „genau wie ihr, liebe Mitte, liebes Volk“. Man könne und wolle nichts anderes, vor allem nichts besseres. Das war ganz, ganz wichtig.
Ulkigerweise führte diese Haltung aber keineswegs zu einer „Herrschaft des Volkes“ oder auch nur zu einer „Gestaltung durch das Volk“. Genau das Gegenteil war der Fall: Die Gutbürgerlichen waren der Inbegriff des Untertanen. Sie wollten genau das sein, egal ob unter König, Kaiser, Führer oder Kanzler. Hauptsache, diese gaben Ihnen irgendjemanden, auf den sie ein wenig treten konnten. Dann war „Ruhe die erste Bürgersehnsucht“.
Nebenbei bemerkt: Sehr lustig war zu der Zeit das politische Kabarett. Jedes Jahr wurden dort Jahresrückblicke gemacht. Und dann wurde aber richtig Dampf abgelassen. An einen wuscheligen Typen, der dazu immer Weizenbier trank, kann ich mich noch erinnern. Der parodierte immer die Kanzler so schön. Und wenn der über eine der damaligen Kanzlerinnen etwas zu deren Gesichtszügen (Oder waren es doch die Kniescheiben?) zum besten gab, dann kicherte das Publikum doch tatsächlich hinter vorgehaltener Hand. Das waren schon toughe (Entschuldigung: taffe) Typen damals.
Ebenso wichtig war für diese Leute: „Wer oben ist, will oben bleiben“. Und da wurde es dann richtig putzig. Die wußten gar nicht, wie „Oben“ denn definiert werden sollte. Und vor allem hatten sie keine blasse Ahnung, wie man denn dahin käme. Sie hatten alles ja immer nur geerbt oder von anderen vorgesetzt bekommen. In dieser Hinsicht taten sich besonders Leute hervor, die sich als „Grüne“ bezeichneten. Ich kann Dir, lieber Rudi, nun nach so vielen Jahrzehnten wirklich nicht mehr sagen, was das mit der Farbe auf sich hatte. War wohl auch nur so eine Art „testimonial“, wie man im Marketing sagte. Erinnern kann ich mich nur sehr genau an einen von denen, der mir schon 1986 erklärte:“Ja, mein lieber Schrat, du bist halt ein paar Jahre zu spät geboren. Sonst wärest Du, wie wir alle, beim Staat untergekommen.“ Das war das Pendant zu Aussagen: “Da wo Du da herkommst und da wo Du da wohnst“, wie ich sie mir oft von reichen Erben, staatspensionsgepolsterten Beamten und Förstern daheim im Wald habe anhören müssen.
Sehr interessant war in diesem Zusammenhang auch die sogenannte Staatsschuldenkrise, die die Gutbürgerlichen damals ans Laufen brachte. Was konnten die rennen! Ein Durcheinander wie auf dem Hühnerhof. Oder wie im Vogelschwarm, allerdings ohne die dazugehörige Schwarmintelligenz.
Dabei war die Ursache doch ganz einfach auszumachen: Das waren die Gutbürgerlichen selbst. Ihre Bauern trieb seit Jahrzehten immer nur eine Frage um: „Auf welche Subventionen muß ich im kommenden Jahr setzen?“ Ihre wie vom Himmel gefallenen öffentliche Stellen und Positionen, auf die sie als „Staatsbürger“ so pochten, verschlangen schon reichlich 30-40% der Haushalte, mancherorts sogar knapp die Hälfte. Diese Idioten waren dabei, sich selbst aufzufressen. Und sie merkten es nicht einmal, diese Fahnenträger des Subsidiaritätsprinzips. Und so trotteten sie willig hinter all denen her, die ihnen zumindest für die nächste Zeit Geld „besorgen“ konnten, an den „Märkten“ wie es damals hieß. Und auch auf die Idee, auf das Kriegführen zu verzichten, kamen die nicht. Wer kein Geld zum Backen (… oder zum K…?) hat, der sollte keinen Krieg führen. Das war schon so, als der Krieg erfunden wurde.
In sehr wenigen Momenten kamen Leute zu Wort, die die Gutbürgerlichen als verkommen und verwahrlost, als kompro­mittiert durch ihre „Verstrickungen“ im zwölf(tausend)jährigen Reich bezeichneten (Verstrickungen! Sie waren die Nazis!). Das waren aber nur sehr wenige und sie wurden nicht gehört.
Ja, die Gutbürgerlichen waren für die kommende Zeit nicht mehr die richtigen; sie waren zu dumm, zu faul und zu dreckig. Stimmt schon. Aber das reichte nicht aus, um die wahre Zäsur am Anfang des letzten Jahrhunderts hinreichend genau zu beschreiben. Doch eines nach dem anderen.

Das Schlaraffenland der Marktliberalen

Nach all diesen doch eher düsteren Bildern soll es nun, wenn schon nicht wirklich erfreulich, so doch wenigstens lustiger werden. Es gab nämlich noch die Gattung der Marktliberalen. Die versprachen das Schlaraffenland. Und sie selbst glaubten auch wirklich daran.
Sie wollten die Gesellschaft von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft umformen. Die wollten mit Geld Geld verdienen und „arbeiten nicht mehr“, wie es ein Werbespot formulierte. Nun, auf den ersten Blick hörte sich das nicht anders an, als wenn kaiserliche Möchtegernkolonialherren vom „Platz an der Sonne“ träumten oder  die Gutbürgerlichen im zwölf(tausend)jährigen Reich sich aus dem eroberten Lebensraum ernähren wollten. Es schien so, als sei das alles nur der schon bekannte Traum der Schmarotzer und Nassauer.
Diese Gattung war wirklich davon überzeugt, Geld könne Geld schöpfen (so wie eine Wertschöpfung im industriellen Sektor ein recht hilfreiches Modell ist). Genau das ging und geht aber nicht. Die schaufelten Geld nur von links nach rechts und umgekehrt. Niemals wurde auf den diversen Pfaden des Kapitalflusses irgendein Mehrwert geschaffen. Es war einfach nur ein Umverteilen, ein Umbuchen, ein Scheingeschäft. Da war es dann auch kein Wunder, daß die damals keine Steuern darauf zahlen wollten. Wo hätten die als Ausdruck des Mehrwertes auch herkommen sollen?
Ganz toll war, daß die riesigen Vermögen, die dabei in Windeseile entstanden nichts weiter waren als die Schulden anderer. Die Provisionen, die bei diesen Geschäften abfielen waren allerdings auch kein Mehrwert. Sie wurden ja nur vom Kuchen abgeschnitten. Und das wirklich Tollste war, die Brüder und Schwestern im Geiste dort mußten Kredite erfinden, ja zwangsweise herbeiführen, sonst hätten sie ja nichts gehabt, das sie in „Handelsware“ (Verbriefungen) hätten umwan­deln können. Was mit den Krediten gemacht wurde, das spielte keine Rolle. Ganz wichtig war, daß die Staaten als Kredit­nehmer mit höchster Bonität das Ganze in gang hielten. Und die Staatsdrömel haben auch kräftig die Kohle angenom­men. Sonst hätten sie womöglich noch ernsthafte Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben müssen. Aber dazu fehlte es ihnen an den nötigen Ressourcen – dem Schmalz zwischen den Ohren, nicht in den Ohren.
Es war tatsächlich aber noch schlimmer. So „beruhigten“ die Reichen die Armen immer damit, daß das „Geld ja nicht weg sei, es sei gerade nur woanders“. Das machten sie immer dann, wenn sie wieder einmal durch eine „Supergelegenheit“ den Zossen in die Grütze geritten hatten. In Wirklichkeit war aber Geld erstens vernichtet worden, nämlich dadurch, daß Spekulationsobjekte, zum Beipiel Immobilien, an Wert verloren. Diese Werte waren einfach nur weg.
Zweitens führte insbesondere die Anhäufung des Geldes in immer weniger Händen (So, nun ist auch das klar: Die Schwarzen Löcher sind kein Modell der Astronomie, sie gehören zur Wirtschaftslehre!) dazu, daß Geld dem Kreislauf aus Werten und Geld entzogen wurde. Soviel konnten und wollten die City-Clowns (auch City-Boys genannt) gar nicht „reinverstieren“, wie sie angesammelt hatten. Es blieb hinter dem Ereignishorizont ihrer Schädeldecke auf immer im Schwarzen Loch zwischen ihren Ohren verschwunden.
Zu allem Überfluß wurden diese Figuren auch noch künstlich am Leben gehalten. Da der Dienstleistungssektor so umundbei 30% der Wirtschaftsleistung ausmachte und man ja schließlich liefern mußte (Wachstum!!!!!), mußte also täglich tüchtig „gedreht“ werden. Am Geldhahn natürlich. Die Umschichtungen mußten weitergehen, sonst stand ja nichts im Leistungsnachweis. Egal ob sinnvoll oder nicht. Vor allem mußten die Staaten Anleihen ausgeben, natürlich zur Umschuldung, um den Kapitaldienst zu senken (Da gab es sogar Anleihen zu 0% Zinsen, sogar Anleihen mit Handgeld!). Selten so gelacht! Das Ganze hatte nur einen Sinn: Das Rad weiter zu drehen, am besten immer schneller. So kam wenigstens keiner auf die Idee nachzudenken.
Wie abgrundtief, wie unendlich bescheuert diese Gattung war, soll Dir auch eine Anekdote aus meiner eigenen Vergangenheit verdeutlichen. Rudi, Du weißt, daß ich nach dem Krebstod meines Vaters vor einem zu hohen Berg gestanden habe. Im letzten Gespräch mit meiner Bank bekam ich dann noch dies zu hören: „Wenn Ihr Vater dann tot ist, Herr Schrat, dann bekommen wir ja seine Rente“. In dem Augenblick wußte ich, daß ich einem Irren gegenübersaß. Einem, der doof wie drei, nein wie hundert Meter Feldweg war. Und der war nicht allein.
Staatsschulden von zwei Billionen waren doch gar nicht schlimm, wenn vier Billionen Volksvermögen als Sicherheit zur Verfügung standen. So dachten die damals. Und so kamen die auch auf eine rettende Idee: Die Reichen sollten doch endlich einmal etwas „an die Gesellschaft zurückgeben“. Damit könnte man doch einen guten Teil der Schulden tilgen und so auf einem erträglicheren Niveau weitermachen. Du liest schon richtig, Rudi: Die wollten weitermachen! Haben sie aber nicht dürfen, diese lebenden Beweise für die Existenz der Ferengi.

Organisierer des demographischen Wandels

So, und nun noch etwas ganz, ganz Lustiges: Die Gattung der „Organisierer des demographischen Wandels“. Die waren einfach nur „Härte Zehn“. Die hatten festgestellt, daß unsere Gesellschaft schrumpft. Wir waren zwar damals Papst, aber wir nahmen ab. Und das immer schneller.
Nun, eine schrumpfende Population geht einfach nur unter, zumindest geht sie soweit zurück, bis sie in irgendeiner anderen aufgeht, also im wahrsten Sinne des Wortes in einem anderen Schoß verschwindet, was ja auch ganz angenehm sein kann.  Will man das nicht, so müssen die Lebensverhältnisse verbessert werden, herbeischrumpfen und herbei­sparen kann man das nicht. Nur wer eine gute Gegenwart und Zukunft für sich selbst sieht, der sieht auch eine Zukunft für seine Kinder – und setzt diese dann in die Welt. Nur dann machen sich Menschen auf den Weg.
„Incentives“ in dem Sinne, wie die Gutbürgerlichen und die anderen sie verstanden, konnten nicht funktionieren. Die wollten Menschen in Not halten und versklaven. Aber Sklavenhaltergesellschaften waren noch nie lebensfähig.
Die „Organisierer des …“ waren nun eher die Sozialverbände und ähnliche. Die wollten ja „nur in Würde altern“. Also sie reklamierten das für sich. Sie wollten auch nur ein wenig zurückverteilen. Und ansonsten so weitermachen wie bisher. Die waren einfach nur noch rührend, hilflos und anrührend. Die berechneten irgendeine Zukunft für die nächsten fünfzig bis sechzig Jahre voraus und warnten. Ja genau, das haben sie am meisten gemacht: gewarnt. Nur getan haben sie nichts. Sie hatten auch keine Ahnung was.
Nur leider waren sie gefährlich. Denn sie hätten selektieren müssen, wer in „Würde altert“ zum Beispiel und wer nicht. Das hätten die auch ohne zu zögern gemacht. Haben sie aber nicht gedurft.

Und die vielen anderen …

Daneben gab es noch viele, viele andere. Die völkischen Autarkisten zum Beispiel. Die wollten zurück in den deutschen Eichenwald (den wollten sie dann auch noch zu Pellets verarbeiten und damit heizen), regionalen Handel wollten die treiben. Bloß nichts Gobales mehr. Die wollten regionale Währungen; und tauschen wollten die. Die hatten nicht nur einfach Angst vor Gottes Schöpfung. Die hatten auch nicht nur nichts aus der Geschichte gelernt. Die hatten gar nichts gelernt.
Oder die Privatisierer oder „Privat vor Staat“ und „das regelt der Wettberwerb“. Also, ganz im Ernst, Rudi: Wenn einem keine neuen Produkte und Konzepte mehr einfallen, so ist die Lösung nicht, Energie und Wasser zwangsweise, gewis­sermaßen in einer andersfarbigen Kollektivierung, zu privatisieren und zu Mondpreisen zu verkaufen. Das ist weder Kapitalismus, noch Sozialismus. Das ist die Rückkehr zu einem Ideal des Feudalismus, das es so selbst im mittel­alterlichsten Mittelalter nicht gegeben hat. Fortschritt wird dadurch nicht befördert. Er wird behindert, ja vorsätzlich verhindert. Wettbewerb ist der Vorgang, dessen Ziel seine eigene Abschaffung, dessen Ziel das Monopol ist. Das ist kein Grundsatz, das ist keine Leitidee, das ist die reinste Form des Schwachmatismus.
Sehr ulkig anzusehen waren auch die Stellschraubendreher: Die drehten immer und überall an etwas herum, das sie weder erschaffen noch verstanden hatten. Und mehr gab es dazu auch nicht zu sagen.
Und dann gab es zu Anfang des letzten Jahrhunderts noch eine ganz besondere Revuetruppe aus süßwasser­matro­senden Zeitreisenden, Nacktläufern, Eierstemplern und was weiß sonst noch alles. Die machten mit einem Böötchen auf sich aufmerksam. Da war aber wirklich der ganze Rest vertreten. Rudi, so etwas mußt Du einfach nur hinnehmen. Laß solche Figuren links liegen und gehe deinen Weg allein.

Eine schrecklich schöne Erkenntnis bricht sich Bahn …

Soweit wäre ja alles erschöpfend beschrieben. Aber irgendwie … Irgendetwas fehlt noch. Das, was damals zu beobachten war, war noch viel, viel tiefgreifender. Wir hatten es mit einer Situation zu tun, wie es sie circa 40.000 Jahre zuvor zum letzten Mal gegeben hatte. Ja: Am Anfang des letzten Jahrhunderts hatten sich zwei Arten von Menschen voneinander endgültig getrennt: Der Homo sapiens sapiens, hervorgegangen aus dem homo sapiens und dem homo waldschratiensis, und der homo bürgerthaliensis, der Bürgerthaler.
Wir sind uns auch heute noch keineswegs im klaren, ob dies ein evolutionärer, ein biologischer Vorgang war. Oder doch eher, wir neigen zu dieser These, ein soziologisches Phänomen: Eine Chance zur Weiterentwicklung für den homo sapiens sapiens, die erst daraus erwuchs, daß der Bürgerthaler mehr oder minder mit Vorsatz in die Sackgasse gelaufen war. Und darin auch bleiben wollte. So wie der Neanderthaler sich wahrscheinlich immer weiter dahin zurückzog, wo er meinte, sich auszukennen. Bis dieser Raum so klein geworden war, daß es für den Fortbestand seiner Art einfach nicht mehr reichte. So eine Art Grenze für das „kleinste funktionierende Sozialgefüge“. So oder so ähnlich wohl.
Du kannst Dir das vielleicht wie einen Zug vorstellen, Rudi. Einen Zug, mit dem der Bürgerthaler unterwegs war. Irgend­wann war dieser Zug nicht mehr der technisch beste. Irgendwann war vielleicht nur ein Wagen, zunächst nur eine Achse, aus den Gleisen gesprungen. Der Zug fuhr aber weiter. Es rumpelte zwar und die Kurvenfahrten wurden immer unruhiger. Das Gleisbett wurde auch beschädigt. Die Steigungen wurden immer langsamer geschafft. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, nicht mehr über den Berg zu kommen.
Aber der Bürgerthaler hielt nicht an, um nach dem rechten zu sehen. Er wollte gar nicht wissen, was da rumpelte. Es hätte ja sein können, daß man das ganze Antriebskonzept hätte überarbeiten müssen. So genau wollte das der Bürgerthaler nie wissen.
Irgendwann kam der Zug dann an eine ganz einfache, langgezogene Kurve mit ganz leichter Steigung. Aber die hat er einfach nicht mehr geschafft. Er blieb stehen. Die Bürgerthaler stiegen aus und bauten tolle neue Maschinen, mit denen sie das Land hinter der kleine Kuppe, vor der ihr Zug stehengeblieben war, erkundeten. So wie sie den Mars erkundeten. Sie machten große Pläne für die Zeit nach der Kuppe, die genau besehen so klein war, daß man fast im Sitzen über sie hinwegsehen konnte. Ihren Zug haben sie aber nie wieder in Gang gebracht.
Sie wollten einfach nicht von ihrem schönen Zug, der sie soweit getragen hatte, lassen. Sie wollten dableiben, obwohl sie ahnten, daß sie das schöne neue Land hinter der kleinen, sanften Kuppe nie erreichen würden.
Wir haben sie dagelassen.

2013: Alles neu macht der Mai – Quo vadis?

Männer sind primitiv. Frauen auch. Oder etwas rhythmischer formuliert: Men are simple. Buisiness is simple. Politics are simple. Auf Deutsch: Wir hatten nicht die Aufgabe, eine neue Moral, eine neue Weltanschauung zu entwerfen. Unsere Aufgabe war es, die Spieler auf dem Feld neu aufzustellen, die „Zusammenrottung im Anstoßkreis“ zu entwirren. Und wir mußten Ziele aufzeigen, die es lohnte zu erreichen. Man bezeichnet so etwas auch mit diesem einen Wort: Führung. Das ist die einzige Aufgabe, die es in der Politik gibt. Und sie ist die schwerste.
Das alles mußte auch noch in der so schön vernetzten Welt, insbesondere der europäischen passieren. Vor allem letztere war damals ja berüchtigt, nichts, aber auch gar nichts nicht selbst regeln zu wollen. Ja, und? Hätten sie ja auch können. Haben sie aber nicht.
Und wir hatten ein sogenanntes föderales (und ein Verbände-) System geerbt. Ein System, daß aber auch von den Alliierten nach 1945 ganz bewußt, sagen wir einmal „vertieft“, worden war. Damit wollten die sicherstellen, daß wir uns schön mit uns selbst beschäftigen und nicht auf dumme Gedanken kämen. Mit ersterem hatten sie Erfolg. Mit den dummen Gedanken nicht.
Die Chance, schon zwanzig Jahre zuvor unser Vaterland neu zu gestalten, die hatten wir versäumt. Die anderen Europäer hätten uns vielleicht, mit ein wenig Aufsicht, damals sogar gewähren lassen. Stattdessen haben wir uns mit der Ausplün­derung der DDR beschäftigt. Auch so eine Beschäftigung mit sich selbst.
Und wenn damals vor hundert Jahren halt alle die Wirtschaft umtrieb, daß man es nicht mehr hören mochte, nun, dann fingen wir eben damit an.

Was also tun?

Ziel allen Wirtschaftens wurde das Schaffen von Werten. Umverteilen und Umbuchen war nicht mehr en vogue. Ganz und gar nicht mehr. Dazu haben wir die  Mehrwertsteuer benutzt, die einst vielleicht wirklich nur dazu erdacht worden war, um an jeder Ecke jede und jeden abschöpfen zu können. Doch in ihr steckte viel mehr. So war durch sie auf einen Schlag jedes Segment des Wirtschaftens gleichwertig geworden, es gab nämlich nur noch einen einheitlichen Steuersatz. Zusammen mit dem Instrument der Produkthaftung wurde alles mit allem vergleichbar. Insbesondere wurde auf diese Weise der gesamte sogenannte (Finanz-) Dienstleistungssektor aus seiner Schmuddelecke hervorgeholt. Ja! Wir haben diese Knallchargen erst richtig salonfähig gemacht. Aber nur zu unserem besten.
Denn machen wir uns nichts vor, lieber Rudi: Prohibition hat nie funktioniert. Und deshalb wurde auch weiter gezockt, an den Märkten. Es war aber nicht mehr so schlimm, weil manchmal zu gefährlich (Haftung! Und wir haben die Schlingel schon bei den Hammelbeinen und auch gern dazwischen gepackt, sehr kräftig gepackt!) – und manchmal einfach nicht mehr ganz so lohnend. Ach ja: Da wo es ganz arg hätte werden können, haben wir den Zockern einfach gegeben, was sie in jeder Spielbank kriegten: Spielgeld. Damit konnten sie dann nicht mehr direkt Unsinn machen.
Viel wichtiger aber war es, ein neues Ziel, ja einen ganzen Zielhorizont aufzuzeigen. Wo sollte vor allem etwas passieren? Mit Handy-Kingeltönen wären wir da nicht weit gekommen, obwohl Produkte, die Freude bereiten, grundsätzlich gute Produkte sind. Und wir mußten dort anfangen, wo wir uns wenigstens leidlich auskannten.
Und hatte ich nicht schon erwähnt, daß „der Markt“ alleine gar nichts bewegt? Oder nur in ganz wenigen Fällen einmal. Und irgendwo Geld „injizieren“, um eine Initialzündung zu geben? Das ist oft genug versucht worden und war immer nur ein Strohfeuer. Das Risiko des eigenen Fehlens voll und ganz einzugehen, auch das macht Führung aus. „Den Markt“, Rudi, mußt Du dir eher als eine Säule, als eine sehr schlanke Säule vorstellen. Mehr als einen Pfosten, einen Vollpfosten.
Wir haben uns daher auf Autos, Energie und Kreislaufwirtschaft konzentriert. Autos? Aber die gab es doch schon! Sicher, Rudi. Sicher gab es schon die großen KDF-Werke in Fallersleben. Und auch im Süden war da was. Aber wir haben das Auto neu erfunden, wir haben das getan, was der Kapitalismus niemals getan hat (auch nicht bei der Einführung der Dampfmaschine und der Eisenbahn). Wir sind ins Risiko gegangen. Das heißt, wir sind vorausgegangen.
Das neue Auto. Das war das Elektro- und das elektrohydaulische Auto. Mit Brennstoffzelle als Kraftquelle. Den Wasser­stoff dazu haben wir im übrigen im Sonnenofen gewonnen. Das waren schicke Droschken! Vom Bambino bis zum Pink Cadillac. Vom Goliath bis zum Gigaliner. Die Dinger fuhren jedem Verbrennungsboliden davon, konnten mit verstellbaren Rädern auf der Stelle drehen und waren kinderleicht zu bedienen. Und das schönste an der Sache: Genauso haben wir die Seeschiffe angetrieben.
Und die Lithiumbatterie? Die sollte doch für die alteingesessenen Großunternehmen der „Burner“ werden. Ja, ja, die wurde auch zur Zwischenspeicherung eingesetzt, eher kleinteilig. Auch saturierte Großunternehmen kann man ersetzen, wenn sie denn den Hintern nicht hochkriegen. Und wir haben viele nette ausländische Unternehmer in den ersten Jahren kennengelernt.
Und damit war auch das nächste „Dicke Brett“ schon halb gebohrt: Die Energieversorgung. Denn der Knackpunkt war die Energiespeicherung, nicht die Erzeugung. Auch da gab es durchaus Möglichkeiten. Keiner der Etablierten wollte aber da richtig ran. Die wollten lieber alles so lassen wie es war; beziehungsweise wollten sie nur „großtechnisch“ speichern. Denn dann hätte man weiter nur bei ihnen beziehen können.
Nun, wir fanden, was sollen wir mit „Stromautobahnen“, die dem Nils Holgersson mit seinen Gänsen nur im Wege stehen, und die ansonsten nichts weiter als Kosten verursachen. Bezeichnenderweise wollten all die tollen Privatisierer auch nie „die Netze“ wirklich haben; also nutzen wollten sie die schon, aber nicht auf eigene Kosten ausbauen oder instand­halten.Da fanden wir es besser, schöne kleinteilige Kraftwerke mit Speicherung zu bauen. Wir haben in einem rasanten Tempo das ganze Land damit überzogen.
Und der, der bei der Speicherung die ersten kleinen, transportablen Module am Start hatte, der hatte sich seinen Vorsprung auch redlich verdient (Der wird heute immer noch mit Ehrfurcht  „The Bigboss“ genannt). Der konnte seine Energie dann auch noch weiterverkaufen. Toll, nicht wahr? Das war nämlich einer (Ja, es war ein Bube, keine Bübin!), der wohl so ähnlich dachte wie einst ein Rockefeller oder Ford gedacht hatte. Nun, bis kurz vor das alles beherrschende Monopol haben wir ihn dann auch gewähren lassen. Dann haben wir ihn eingekauft und zum Denkmal erklärt. War teuer genug, aber irgendwann muß es auch gut sein.
Bevor ich es vergesse: „The Bigboss“ hat sein Handwerk wirklich verstanden. Der hat seine ersten Produkte massenhaft und billig auf den Markt gebracht. So geht Markteinführung, wenn man wirklich etwas bewegen will. Die „neue Energie“ wurde bezahlbar gemacht – und die alte damit endgültig ins Abseits gestellt.
Und aus der Rohstoffrückgewinnung haben wir ein echtes Kreislaufgeschäft gemacht. Ein Geschäft! Das heißt, Abfall wurde nicht entsorgt und sortiert, gegen Gebühren, er wurde verkauft. Und zwar vom sogenannten Verbraucher selbst. Denn der war ja genaugenommen nur ein zwischenzeitlicher Verwender. Er hatte den Kauf bezahlt. Und konnte den Rest weiterverkaufen. Allerdings mußte er dafür Qualität (Sortenreinheit und ähnliches) liefern. Wer etwas für seine „Reste“ haben wollte, der mußte sich eben anstrengen …
Nein, so natürlich nicht! Jeder mit seinem eigenen kleinen Schrottplatz! Aber der Hersteller mußte (und wenn er rechnen konnte, dann wollte er das auch freiwillig, um im Einkauf zu sparen) „seine“ Rohstoffe wieder zurücknehmen und dies dem Kunden auch vergüten. Oder vielleicht seine Produkte nur vermieten, wenn sein Kunde halt nicht Eigentümer werden wollte. Haben die alles untereinander selbst ausgehandelt. Manchmal ging es in den ersten Jahren zu wie im Basar. War auch ganz schön und hat Spaß gemacht.
Und noch einmal. Zum mitschreiben. Wenn ein Gerät funktioniert, dann ist es Ware. Wenn es nicht mehr funktioniert, dann ist es Schrott. Und Schrott ist dasselbe wie Rohstoff. Und Rohstoff ist Ware. Und kein Müll. Also gibt es auch keinen Müll zu vermeiden. Und wenn man ein Gerät ersetzen will, weil man ein schöneres haben möchte, dann ist das gut so. Das alte Gerät kann man auch direkt in den Schrott geben (oder als gebraucht verkaufen, aber dann ist der Rohstoff weg). Denn der Schrott  ist genauso Ware wie das neue oder das gebrauchte Gerät. Das ist keine Sünde. Das ist das Prinzip des rauchenden Schornsteins. Und damit Basta. Das sündenbehaftete Mittelalter ist halt doch schon etwas länger alt.
Jetzt kannst du auch erkennen, Rudi, was noch als Hintergedanke in dieser Zusammenstellung „Auto – Energie – Kreis­laufwirtschaft“  steckte. Wir hatten Öl aus dem Transport- (außer Flugzeuge, da dauerte es noch etwas) und dem Energie­sektor herausgenommen und damit beim Werkstoffproblem Zeit gewonnen. Diese Zeit konnten wir in der Forschung gut nutzen, denn Öl gab es nicht mehr so viel. Ach ja, es wurde im übrigen auch deswegen Zeit, auf diesen Weg einzu­schwenken, weil die Schlauen unter den Ölförderern schon längst für die Zeit danach gedacht hatten. Aus der Energie­erzeugung konnte man recht schnell das Öl abziehen. Auf Öl als Werkstoff zu verzichten war da schon schwieriger.
Das hört sich alles zu leicht an? So kann das nicht gewesen sein? Rudi, denke einmal an die Schreibmaschine und den Dieselmotor. Die Schreibmaschine war tot als der Schreibcomputer erfunden war (also vor seiner Markteinführung schon). Jeder, der versucht hat, die Schreibmaschine zu erhalten (zu „faceliften“ wie man so sagte, oder sie mit Zusatznutzen und „Gadgets“ „upgraden“ wollte), der war schon hingefallen, bevor er den ersten Schritt getan hatte. Und der Dieselmotor hatte die Dampfmaschine als Schiffsantrieb schon abgelöst, als er die ersten Minuten am Stück durchgehalten hatte, im Schuppen vom Rudolf.
So ganz nebenbei bemerkt: Es waren noch nicht einmal Prämien und ähnliches nötig. Allein die Aussicht, wieder etwas schaffen zu können, auch ganz persönlich neue Ziele erreichen zu können, langte völlig aus, um unser Land in Drehung zu versetzen. Die Sache mit der intrinsischen Motivation ist doch eine feine Erfindung vom Lieben Gott, nicht wahr?
Aber dann gingen doch die ganzen Arbeitsplätze verloren …? Ja, es gingen all die Arbeitsplätze verloren, die nicht mehr gebraucht wurden. Unsere Autos mit Einzelradantrieb hatten zum Beispiel keine herkömmlichen Bremsen und Getriebe mehr. Na und? Sie bestanden halt aus anderen Komponenten.
Wir haben nicht einfach mutwillig alles umgekrempelt, um der „heiligen Reinheit“ willen. Ich habe Dir doch die Sache beim Thema Öl erklärt. Und genau das macht eben Führung aus: Neues vorwegnehmen können oder anders gesagt, eine Vision zu haben (Visionen sind endgültig seit der Großversuchsreihe des Jahres 2047 offiziell keine Krankheit mehr).

Und was war mit den Steuern und der Rente und …?

Wir haben das gesamte Steuersystem nur auf die Mehrwehrtsteuer gestützt, worauf es eigentlich ohnehin schon ruhte; das sollte nur keiner wissen. Die Einkommensteuer (auch die Körperschaftssteuer) wurde in der „Vorauszahlungvariante“ einfach abgeschafft. Dabei mußten wir schon ein bißchen länger nachdenken. Denn bis dahin war sie eine Sache der „ausgleichenden Gerechtigkeit“, die Einkommensteuer nämlich. Hat aber erstens nicht funktioniert und stand zweitens jetzt im Weg. Die Menschen brauchten mehr zur Verfügung. Und die Selbstdefinition „Ich bin aber Steuerzahler und ich will …, sonst halte ich die Luft an …“ konnte einfach keiner mehr hören.
Auf restlos alles, was gewerblich gekauft und verkauft wurde, wurde die gleiche Mehrwertsteuer erhoben. Im übrigen, wenn ich mich recht entsinne,  20 oder 22%; das war schon schön europäisch.  Auch auf Export- und Importgüter. Wer bis dahin im Export damit spekuliert hatte, ohne oder mit geringerem Steuersatz operieren zu können, der mußte halt sehen, wo er bessere Preise bekam – oder etwas abgeben. Auf jedes Einzelschicksal kann man nun wirklich nicht immer Rücksicht nehmen.
Eingesammelt wurde weiterhin über die Unternehmen, die aber für ihre Dienstleistung sogar vergütet wurden. Das kam bei neuen Unternehmen aus dem Ausland, die sich hier ansiedeln wollten, sogar ganz gut an. Und der viel geschmähte bürokratische Aufwand war minimal, denn die reine Auflistung des Verkausferlöses und der Einkäufe reichte ja aus. Rechnen mußten die Finanzbeamten selber. Dafür wurden sie schließlich bezahlt.
Ach ja, ganz wichtig: Unsere (janusgesichtigen) Steuerbeamten wurden nach ganz klarem Vorbild ausgesucht. Sie entsprachen dem altrömischen Vorbild „Incorruptus“ (Ganz große Literatur!). Sie gingen in die Betriebe und holten sich die Daten ab. Sie waren freundlich und halfen bei Fragen. Und vor allem waren sie klein und gemein. Sie waren erbarmungs­los beamtisch. Sie kannten nicht den geringsten Skrupel, einem kleinen Möchtegernbescheisser die Hammelbeine … Und als Vorgesetzte kriegten die nur die doppelt kleinen und gemeinen ihrer Zunft.
Wir haben auch die Vermögens(zuwachs)steuer (für jeder natürliche und juristische Person) neu definiert. Aber mehr als Belohnung konzipiert. Jeder mußte nach wie vor zum Jahresende seine Steuererklärung abgeben. Wir haben aber für die ersten 5% Vermögenszuwachs eine kleine Belohung gezahlt (Du kannst dir gar nicht vorstellen, Rudi, was da für Geschichten erfunden wurden; die waren als Groschenroman ein richtiger Renner). Danach kam dann eine sehr moderate, allerdings progressiv steigende Besteuerung des Vermögenszuwachses.
Und wer meinte, über Auslandstöchter oder ähnlich seinen Zuwachs kleinhalten zu wollen, der hatte es nicht so ganz verstanden. Der, der nichts weiter als die 5% Zuwachsprämie mitnehmen wollte, der war ein „Stagnierer“, ein Wachtums­verweigerer sozusagen. Der durfte das genau zweimal machen – zum ersten und zum letzten Mal.
Und jeder, wirklich jeder mußte für seinen Zuwachs auch die Aufwendungen korrekt angeben. Kein Arbeiter konnte also Wegekosten weglassen, nur um seine 5%-Prämie zu bekommen. Spaß beiseite. Seit den 1920er Jahren waren Leute damit beschäftigt gewesen, zu entscheiden, ob auch Privatpersonen, insbesondere Arbeiter, da keine Bürger (oder so ähnlich), steuerlich relevante Aufwendungen hätten oder nicht. Hatten sie.
Und wie sollte dann der Zuwachs aussehen? Wer zum Beispiel ein Achtel Wertverlust seines Autos durch zwei Achtel Spareinlage ersetzte, der hatte doch mehr getan, als nur den Wertverlust ausgeglichen. Oder? Das wurde halt belohnt. Arbeitnehmersparzulage einmal anders.
So gab es weiterhin etwas, um sich an seinem Staat reiben zu können. Das war und ist sehr wichtig. Auf die Steuerein­nahme an sich kam es gar nicht so an. Wichtig war, daß jeder Vermögen auch erwerben wollte. Ach ja. Damit das alles von Anfang an Spaß machte, haben wir die Erbschaftssteuer abgeschafft. Der Erbe hatte eben plötzlich mehr im Vermögen. Nur die Belohnung für die ersten 5% Zuwachs bekam er nicht. Das wäre für die vielen Erbonkel und -tanten zu gefährlich geworden.
Nur die, die in ihrer Erklärung keinen Vermögenszuwachs nachweisen konnten, die hatten ein Problem (so wie die „Stagnierer“ oben). Die wurden einbestellt und mußten sehr genau argumentieren. Stellte sich zum Beispiel heraus, daß ein Unternehmen Vermögen verzockt hatte, dann bekamen die noch ein Jahr Galgenfrist. War es danach immer noch nicht auf den Pfad des steigenden Vermögens zurückgekehrt, dann wurde „die Bude dichtgemacht“. Und der „Privat­schrat“ bekam eine kleine Strafe, damit er wieder ein braver Vermögensbauer wurde. Und weißt Du was, Rudi, mit den Banken haben wir das genauso gemacht: Kohle verzockt? Bude zu!
Und wovon hat dann einer die Kitas bezahlt? Und wer bezahlte die Rente und die Sozialversicherungen Und der schöne Staat, mußte der denn nicht jetzt kräftig sparen? Der Staat direkt am Wirtschaftsgeschen, denn mehr als Mehrwertsteuer kriegte er ja im wesentlichen nicht mehr! Du Schrat mit Ohren! Das geht doch gar nicht …!!!!!!!!!
Aus! Mein lieber Rudi, hier schreibt nur einer. Und das bin ich. Du kriegst jetzt keine M und Ms, hier wird nicht genascht. Du kriegst hier L und L: Lesen und Lernen.
Das ging alles. Ganz gut sogar. Zuerst einmal war dabei wichtig, daß der Staat gezwungen war, sich konform zur Wirtschaftsentwicklung zu verhalten. Er mußte, anstatt wahlenfreundliche „Initialzündungen“ auszugeben, auf strategische Entwicklungsfelder setzen. Das war in den ersten Jahrzehnten die gesamte Bandbreite der Werkstoffe. Das war wesentlich. Nicht mehr die IT-Branche. Und da „der Markt“ so etwas von allein ja nicht macht, hat das unser Unternehmer­staat halt getan. So wurden zum Beispiel die „Seltenen Erden“ weder „erobert“, noch wurde nach ihnen im Asteroiden­gürtel „prospektiert“ (Das hatten ernsthaft welche vor!) – sie wurden „recycelt“, ja das auch, und ersetzt. Insbesondere aber wurde am Herstellungsprozess, am eigentlichen Gewinnungsprozeß der an sich doch gar nicht so seltenen „Seltenen Erden“ konzentriert gearbeitet. Alle „Lenkungs­maßnahmen“ wurden für die Entscheidungsträger halt etwas schweißtreibender – hinter der Stirn.
Unser Unternehmerstaat war dann auch der erste, der verdienen durfte. Wollten sich danach (oder auch von Anfang an) andere beteiligen, so waren sie willkommen. Aber die meisten wollten immer erst das Anfangsrisiko abwarten. Also bekamen sie auch die Krümel, nicht den Kuchen. Im Ernst: Es war nicht ganz so schlimm Nach einer gewissen Zeit lief diese „Kooperationswirtschaft“ schon ganz gut. Allemal besser als irgendwelche Lizenzen zu vergeben, einmal Geld einzunehmen und anschließend den Dreck auf Staatskosten wegzuräumen. Es war halt nur ein wenig anstrengender. Aber „Ohne Schweiß kein Preis“, wie ein altes Sprichwort sagt.
Es wurde natürlich auch kräftig gespart, richtig Verzicht geübt, asketisch geradezu – genauer: Es wurden all die lieb­gewonnenen gutbürgerlichen Pfründe abgeschafft. All die vielen Verwaltungspositiönchen und Subventiönchen, die es den Gutbürgerlichen und ihrer Brut (Die hatten unter „Staatsbürger“ immer nur „Erbbürger“ verstanden!) so leicht gemacht hatten. Was glaubst Du eigentlich, was für ein enormer Pensionsbatzen nach den ersten dreißig Jahren aus dem Etat verschwunden war.
Ja, es hat seine Zeit gebraucht, die gutbürgerlichen „Altlasten“ (seit den 1980ern ein geflügeltes Wort) abzutragen. Da zahlte es sich aus, daß wir die Finanzmärkte hatten überleben lassen. Unser Staat hat gegen die gezockt, daß einem schwindelig wurde. Ja und! War das vielleicht verboten. Hatten die „Schlaraffenland-Träumer“ etwa als einzige diese Möglichkeit? Also ab mit den vielen Pensionslasten in irgendeine Bad Bank , auszahlen und warten, bis die „Anspruchsinhaber“ davongegangen waren. Bloß nicht mehr darüber nachdenken.
Bloß nicht mehr darüber nachdenken … Auch nicht über den Erhalt dahinsichender Unternehmen oder Branchen. Sie sogar mit Beifall erheischenden Maßnahmen über Wasser halten wie die landschaftspflegenden und wählenden Bauern. Perspektiven aktiv entwickeln und den Menschen neue Wege zu ebnen, aktiv zu ebnen – nicht nur bedeutungsvoll darauf zu weisen –, das war die Aufgabe des Staates. Hat er auch von Generationswechsel zu Generationswechsel (seiner treuen Bediensteten) immer besser geschafft.
Ja, schon gut, ich weiß, Rudi! Bei genauem Hinsehen war der Staat, das Land damals schlicht und ergreifend pleite. Genauso benahmen sich die gutbürgerlichen politischen Führer auch. Sie rechneten immer eine Gesamtwirtschafts­leistung zusammen, die den ganzen Finanzsektor mit einbezog. Dort wurden aber gar keine Werte geschaffen. Das war so wie es „Manager“ immer tun, um bei ihrer Hausbank gut dazustehen, um eine bella figura zu machen. Dazu erfanden sie stets „die Zukunft“ neu, immer wieder, so mit Licht am Ende des Tunnels, neue Chancen anpacken und es wird schon werden, wenn wir alle brav in die Schule gehen. Es ging aber immer nur darum, frisches Geld locker zu machen. Ihre „Schuldenbremsen“mit 3% Neuverschuldung bei 5% Wachstum (Hallo!!!!!!!!!) waren eine einzige Lachnummer. Aber, wie gesagt, es war schon von Vorteil, die „Schlaraffenland-Träumer“ am Leben zu halten. Als Bad Banker waren die eine Wucht in Tüten. Unser Insolvenz-Planverfahren in Eigenverantwortung hat funktioniert, auch wenn es deutlich länger als zwei Jahre dauerte. Wie sonst hätten die Gläubiger der Gutbürgerlichen wieder an ihr Geld kommen sollen. Nur ihr „Neugeschäft“ lief halt nicht mehr so wie gewohnt.
Noch ein kleiner Einschub zum „Unternehmerstaat“. Vor einhundert Jahren sind auch solche Sachen passiert: Als eine neue Identitätskarte (Personalausweis) eingeführt wurde, sollte man damit auch im Internet identifizierbar sein. Die Soft­ware dazu ließ noch eine Weile nach Einführung der Karte auf sich warten. Eine Nachfrage beim zuständigen Ministerium wurde mir so beantwortet: „Das regelt der Markt“. Natürlich gegen irgendeine Bezahlung. Eine solche „Abkochnummer“ gab es kurz darauf auch bei der elektronischen Steuererklärung. Da gab es Sicherheitsstufen bei den Zugangsprogram­men, die unterschiedlich viel kosteten. Und wenn einer nachfragte, ob „das auch alles korrekt sei“, so bekam er eine professurale Antwort: „Ja, das ist alles marktwirtschaftskonform und so weiter und so weiter“ (Diese Antworten waren wohl eher für die ehemaligen DDR-Bürger gedacht gewesen, damit die auch mit Stempel und Testat wußten, woran sie waren).
All das hatte mit unserem Unternehmerstaat nichts gemein. Da ging es nur ums Abzocken, um das ganze marode System am Laufen zu halten. Genauso wie bei den Privatisierungsarien. Da wurden sozusagen „Lizenzen zum Ausbeuten“ vergeben, um sich „die Märkte“ gewogen zu halten. Das war wirklich die lebende Ferengi-Gesellschaft: Wenn man dort vor der Audienz beim großen Nagus zur Toilette wollte, dann mußte man schon für die Erlaubnis zu fragen, wo die denn sei, einen Streifen Latinum bezahlen. Jetzt aber mal ehrlich: Wer wollte schon in einer Filmkulisse leben!
So, und jetzt noch zum Sozialsystem. Der Bismarck wurde ersetzt durch die alte aber umso treffendere Weisheit „Der Teufel scheißt auf den größten Haufen“. Irgendein Bundes-Herzog hatte einmal gemeint, eine beitrags- oder staatsfinan­zierte Rente auf eine kapitalgedeckte Basis zu stellen, das würde nichts bringen. Das würde ja Jahrzehnte dauern. Nun, bei jedem Einzelnen sollte es nach der Meinung der Gutbürgerlichen aber funktionieren, oder riestern wie die sagten. Hat es natürlich nicht.
Die Lösung war ein Haufen. Ein richtig großer Geldhaufen (für Renten- und Krankenversicherung), der den Rest der (Finanz)-Welt so richtig aufmischen konnte. Unsere speziell geschulten Leute aus den Reihen der „Incorruptii“ haben den I-Babies (vormals Investment-Buddies) so richtig in den Hintern treten dürfen. Die haben diese Nasen abgekocht, was das Zeug hielt. Deren Haufen war so groß, die konnten hebeln ohne Fremdgeld … Nein! Die waren ganz brav. Die hatten aber schlicht und ergreifend aufgrund der Haufengröße stets die Nase vorn. Und, ich gebe es ja nur ungern zu: Wir haben das einfach abgekupfert. Iregndwo im schwedischen Norden. Ich nenne aber keine Namen. Na und? Besser sauber kopiert als schlecht erfunden!
So, und nun ist es an der Zeit auch diese Katze aus dem Sack zu lassen: Die Unternehmen wurden komplett aus dem ganzen Sozialsystem herausgenommen. Die sollten Mehrwert schaffen, sonst nichts. Und wenn sie das nicht mehr konnten, dann wurden sie begraben. Das waren nämlich die eigentlichen „Chinesichen Verhältnisse“, die alle immer so herbeigesehnt hatten: Nicht die Diktatur der Unternehmen, sondern die Diktatur über die Unternehmen.
Spaß gemacht. War ein Witz. Aber als alles beherrschende „Klasse“ waren die Unternehmen so richtig „out“. Die durften Geld verdienen, bis es ihnen zu den Ohren herausquoll. Ihr Rat und ihre Ideen waren durchaus gefragt. Sie wurden für gute Leistung auch geachtet. Aber auch nicht mehr. Die Verbände existieren schon lange nicht mehr.

Die Spieler auf dem Feld: Leistung bekam ihren Wert

Das Ziel allen Wirtschaftens wurde, ich sage es noch einmal, das Schaffen von Werten. Dazu gehörten die Unternehmen und die Arbeiter. Den „Arbeitgeber“ und den „Arbeitnehmer“ gibt es allerdings nicht mehr. Die Verbände verschwanden und die Gewerkschaften auch. Es ging nicht mehr darum, sich „hochzudienen“, „klein anzufangen“, „dankbar dafür zu sein, überhaupt noch eine Stelle zu bekommen“ oder „wie der Vater, das ganze Berufsleben in einem Betrieb zu verbrin­gen (der Sicherheit wegen)“. Es ging beiderseits ums Geldverdienen. Was zählte, war die Leistung – und die hängt nun einmel vom Lohn ab. Und ansonsten von gar nichts.
Die Unternehmen wurden „endlich befreit“: von Sozialabgaben und natürlich auch von der Gewerbesteuer. Der Grund dafür liegt in einem schönen alten Sprichwort verborgen: „Wer die Musik bestellt, der muß sie auch bezahlen“; was umgekehrt heißt: „Wer nichts bezahlt, der entscheidet auch nicht, welches Stück gespielt, ja ob überhaupt gespielt wird“.
Die Unternehmen mußten allerdings Abgaben leisten und natürlich Vorschriften zum Unfallschutz und zur sonstigen Sicherheit erfüllen. Wer also meinte, ich gehe jetzt nach Deutschland und hole mir aus dem Kral ein paar Leute. Die lasse ich dann mit bloßen Händen im Dreck wühlen, weil ich der große Massa bin, der merkte gleich bei der ersten Anfrage, daß er hier falsch war, vollkommen falsch, lebensgefährlich falsch.
So, nun genauer zu der Geschichte mit den Abgaben, Das war ein ganzer Katalog von „Aufwandsentschädigungen“, die hier ein Unternehmen leisten mußte. Da war von der Infrastrukturabgabe „Straße und Schiene“ bis zur „Entschädigung für Luftverschmutzung durch Zigarren rauchendes Management“ alles drin. Auch der wirklich größte Unsinn. Aber die Unternehmen konnten das natürlich vermeiden.
Denn das Ziel war ein ganz anderes: Die Unternehmen sollten saubere, technisch einwandfreie und lohnende Betriebe hinstellen. Hinterhofbuden wollten wir nicht. Und das haben sie dann auch getan. Sie haben schön alle „Auflagen“ erfüllt, um sich von möglichst vielen Abgaben zu befreien. Und wer das ganz schnell und ganz gut machte, der bekam auch noch Gutschriften für seine Vermögenszuwachssteuer.
Das alles funktionierte wie das Geschäft mit Rabatten: Vorher draufschlagen und dann Rabatte geben. Das ist kein „böser Trick“, Rudi. Menschen sind so. Sie wollen ihr Erfolgserlebnis haben. Und damit sie über den Ochser kommen, ohne ihn umzureißen, muß man ihn halt erst einmal aufstellen, den Ochser. Das weiß doch jeder Springreiter. Und selbst wenn ich das ganze Land mit Handzetteln pflastern würde, um über diesen „Trick aufzuklären“ – er würde immer wieder funktio­nieren. Schön, nicht wahr?
Insbesondere für neue „Player“ war das alles gedacht. Ich habe Dir ja schon gesagt, die alten (Erben-) Unternehmer hier im Lande, die waren für uns gar nicht mehr so wichtig. Die drohten ja ohnenhin damit, wegzuziehen. Nun, dann sollten sie halt gehen. Hauptsache, sie standen nicht mehr im Wege.
Der wichtigste Punkt aber war, daß die Unternehmen keinen Zugriff mehr auf die Menschen bekamen. Der „Feudalistische Machtfaktor“ wurde sozusagen aus unserer Gesellschaft herausoperiert – mit chirurgischer Präzision. Denn wer keinen Zugriff auf die Menschen hat, der beherrscht sie auch nicht.
Die Arbeiter organisierten sich in Genossenschaften, sie wurden dadurch selbst zu Anteilseignern eines Unternehmens. Darüber „verliehen“, genauer: vermarkteten sie sich selbst. Das Unternehmen „stellte nicht mehr ein“. Es kaufte Leistun­gen ein. Dafür mußte es bezahlen. Dafür mußte es gut bezahlen. Selbstverständlich haben wir auch da Mindeststandards eingeführt. Es ging darum, Geld zu verdienen, nicht darum, Geld zu wechseln.
Damit war auch das „Reichenpoblem“ gelöst. Nachträgliche Almosen brauchte niemand mehr zu erbetteln, wie man das damals immer mit dem Hinweis auf „Eigentum verpflichtet“ versuchte. Bezahlt wurde vorher. Wie groß auch immer die Gewinne der Unternehmen wurden, Macht konnten sie damit so leicht nicht mehr ausüben, denn niemand war auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen. Politische Führung ist halt doch so etwas wie „Vorausschauende Fahrweise“.
Na schön, Du hast recht, Rudi! So „rein“ haben wir das natürlich nicht gemacht. Mancher Unternehmer, vor allem der Einzel- oder Familienunternehmer, braucht halt seinen Hofstaat, insbesondere seine Hofnarren. Und einige geben ja auch recht gerne und recht gut den Narren ab. Wir haben daher schon noch einen kleinen Prozentsatz an sogenannter Stamm­belegschaft aus sogenannten Fachkräften. Ja doch, es gibt mittlerweile gut funktionierende Fachschulen für Hofnarren, denn: „Ein bißchen Spaß muß sein, dann ist die Welt voll Sonnenschein!“
Jetzt wieder ernsthaft: Die Genossenschaften waren auch Kern der ganzen Arbeitslosen- und Unfallversicherung, auch einer zweiten Rentenversicherung. Daher waren diese Genossenschaften auch nicht gerade klein. Auch hier galt das „Prinzip des großen Haufens“.
Und sie sorgten durch Selbstkontrolle dafür, daß jeder ihrer Genossenschafter schnellstmöglich wieder ans Arbeiten kam. Allerdings an ein profitables Arbeiten. Aus purem Selbsterhaltungstrieb (Sie dachten eben rein unternehmerisch!) machten sie nur die Dinge, die auch Profit brachten, die ihnen selbst Profit brachten.
Die Genossenschaften „machten“ im übrigen auch die berufliche Ausbildung. Ihre Genossenschafter kannten die betrieb­lichen Belange nach kurzer Zeit besser als die Unternehmer selbst. Sie wußten ganz genau, wann sie Leerlauf hatten und warum. Sie wußten ganz genau, welche Arbeit verbessert werden konnte und wie. Sie berieten ihre Auftraggeber sogar. Allerdings: Guter Rat ist teuer. Aber das ist er schon seit Anbeginn der Zeit.
Und die Umkehr der Machtverhältnisse zwischen diesen beiden Polen (“Kapital und Arbeit“), die war nicht so neu: Jeder von den „Größten Outsourcern aller Zeiten“ damals hatte ganz schnell erfahren müssen, daß er selbst das überflüssige Glied in der Kette war. Macht steht eben immer auch auf einem sehr sumpfigen Untergrund.
Ach ja. Wer meinte, ich leihe mir jetzt einmal ein paar Leute, mache einen guten Vertrag – und schicke dann nach der halben Laufzeit alle wieder heim, der war ein wenig auf dem Holzweg. Der bekam solange mit dem Handelsgesetzuch den Hintern verdroschen, bis er lachte. Die Dummdreisten sterben halt nie aus.
Noch eine kleine Ergänzung dazu, Rudi. Unsere Gefängnisinsassen und unsere Behindertenwerkstätten sind im übrigen genauso genossenschaftlich organisiert. Diese beiden Gruppen sollten damals möglichst billig arbeiten, um „der Gesell­schaft etwas zurückzugeben“. Wir fanden, daß verurteilte Straftäter den Schaden, den sie angerichtet hatten, wiedergut­machen sollten. Sie sollten ihre Opfer entschädigen. Sie sollten tüchtig arbeiten, aber zu ordentliche Löhnen. Und die ordentlichen Löhne galten auch für die Behindertenwerkstätten. Die sollten Stolz auf ihre eigene wirtschaftliche Leistung sein können. Alles andere wäre im übrigen auch reine Wettbewerbsverzerrung gewesen. Es konnten ja nicht alle Unternehmen dort arbeiten lassen. Und mit dem Thema Wettbewerb, lieber Rudi, nehmen wir es sehr genau.
Noch etwas zu dem Wertgedanken, Rudi. Vor hundert Jahren gab es viele, die wollten Sozialtickets für die Armen ein­führen, für Bus und Bahn. Oder die wollten gebührenfreie Gratiskonten bei den Banken. Almosen, lieber Rudi, helfen nur denjenigen, die sie geben. Bei uns heute kostet selbstverständlich ein Bankkonto Gebühren, dafür sind aber auch ab dem ersten Pfennig (Entschuldigung!!!!!!!! Cent oder wie die Dinger jetzt auch immer heißen!) Einlage Zinsen fällig. Und wer verhandeln möchte, der kann doch gern auf Zinsen für xyz,00 verzichten, wenn er dafür keine Gebühren zahlen muß. Und wenn dann eine Bank meint: „Ja, wo sind wir denn! Hier wird doch nicht verhandelt. Hier wird gehorcht!“ Nun, dann sollte sich diese Bank ein neues Land suchen. Hier bei uns hat sie keine Zukunft. So geht das mit dem Wertgedanken.

Und was war mit der Demokratie und der Wählerei und dergleichen?

Wir Waldschrate wären sehr gern zum Tingplatz in den Wald gegangen. Wir hätten sehr gern mit den Schwertern gegen die Schilde geschlagen oder sehr gern ausgiebig gemurrt. Das war aber schon allein deshalb nicht praktikabel, weil stets die Frösche dazwischengequakt haben. So hätte nie einer gewußt, ob wir zustimmend geklappert oder ablehnend gemurrt hätten. Und uns wäre es auf Dauer auch ein wenig zu kalt geworden.
So blieb uns doch gar nichts anderes übrig, als eine wirklich funktionierende repräsentative Demokratie auf die Beine zu stellen. Ja, Rudi, eine repräsentative Organisationsform. Dazu brauchten wir aber einen neuen Typus Abgeordneten und eine neue Basis der Selbstorganisation. Mit letzterer will ich anfangen.
Der Föderalismus alter Ordnung, so will ich das einmal benennen, der war genaugenommen doch nichts weiter als die Wiederauferstehung der Fürstentümer und sonstigen „Herrschaften“ in der Restauration (im Anschluß an den Napoleon). So wurde das auch von den Bürgerthalern gesehen. Ich erinnere mich noch sehr genau an einen meiner Bürgermeister, der sich selbst und seine Kommune lediglich als unterste Stufe der Obrigkeit verstand. Und als solche konnte man natürlich selbst nicht allzuviel machen und so weiter und so weiter …
Wir haben die Selbstorganisation ganz einfach auf das gegründet, was die Menschen sowieso im Kopf hatten: Sie fühlten sich einer bestimmten Region oder Landsmannschaft zugehörig. Sie verstanden sich als Franken oder Oldenburger, als Düsseldorfer oder Holsteiner oder als was auch immer. Diese Regionen waren sogar sehr genau abgrenzbar, sprachlich zum Beispiel. Und sie hatten eine feste historische Verankerung. Darauf haben wir aufgebaut.
Diese Regionen verwalteten sich selbst. Immer nach der gleichen Struktur: Repräsentantenhaus nach Kopfzahl, von dort gewählte Verwaltung und von allen gewähltem, na sagen wir einmal „Vorsteher“. Und der war tatsächlich der „Chef“. Und das heißt, der war verantwortlich. Und ansonsten war der gar nichts. War der schlecht, dann flog er raus. War er gut, dann war es gut so.
Dasselbe galt auch für die Region an sich. Florierte sie, dann war es gut, war sie zu klein, zum Beispiel, und florierte deswegen nicht, na dann fusionierte sie halt. Hat manchmal gedauert, aber in der ganzen Struktur, in diesem lebenden Regionen-Gewebe ist schon Leben drin gewesen und ist es immer noch. Und das ist auch richtig so.
Über dieses lebende Gewebe noch irgendwelche, erstickenden Obrigkeits-Strukturen (ob Regierungspräsidium, ob Kreis, ob Land oder ob sonstwas) zu legen, war einfach nur überflüssig. Niemand brauchte das. „Flache Hierarchien“ hieß das. Die Regionen bekamen einfach einen Anteil (einen recht großen, um genau zu sein) der Mehrwertsteuer (Das war auch für sie die Quelle und sonst gab es keine!) in die Hand, einen weiteren aufs Sparkonto („Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not!“). Und fertig war die Angelegenheit.
In jeder Region gab es dazu das kleine, bescheidene und wenig kostende „Staatshaus“ mit den Incorruptii drin. Und die haben nicht geknausert. Die haben schon aufs Geld aufgepaßt, aber die haben auch ihren Beratungsauftrag ernstgenom­men. Zum Beispiel war dies wichtig, wenn eine Region unbedingt noch größer und schöner, noch bunter und lauter werden wollte als die Nachbarn. In aller öffentlichen Deutlichkeit haben die Incorruptii dann die Bevölkerung darauf hingewiesen, im Quartalsaudit (kommt gleich noch genauer). Das reichte im allgemeinen aus, die Kirche im Dorf zu lassen.
Vielleicht hast Du, lieber Rudi, etwas von der „Bewegung der Kleinkleckersdorfianer“ gehört. Das war eine Sekte bei uns Waldschraten. Die hatten ihren Wald so lieb, die wollten drin bleiben. Auf einer kleinen Lichtung. Das war ihre heile Welt. Je kleiner, je besser. Nun, denen mit einer strengen Gebietsreform beizukommen, wäre nie gelungen. Ihre Vorsteher sind dann, zunächst konspirativ und heimlich zu den anderen Regionalchefs gegangen, als ihre Lichtungen wirklich zu klein geworden waren. Alle anderen haben so getan, als wüßten sie nichts. Und plötzlich waren auch die einer anderen Region beigetreten. Einfach so. Lessons learnt: Schön leise und gelassen nach Lösungen suchen. Und Menschen die Chance geben, ihr Gesicht zu wahren.
Einzig und allein eine Struktur wurde „übergestülpt“: das Netz der Wahlkreise für die Repräsentanten des ganzen Landes (nach Kopfzahl). Die wurden direkt gewählt. Das heißt, es war egal, ob die einer Partei angehörten oder nicht. Es war auch egal, ob die im Staatsrepräsentantenhaus Fraktionen bildeten oder nicht. Das hatte eigentlich nur den einen Grund: Sie sollten sich nicht hinter denen verstecken können, nicht hinter Partei noch hinter Fraktion. Bei uns wurden nämlich sehrwohl Personen gewählt, Menschen, von denen sich jeder nicht nur die gleichen Überzeugungen wir die eigenen erwartete, sondern auch einen manchmal ganz persönlichen Vorteil. Das war nicht weiter schlimm, das war einfach nur menschlich.
Die Staatsregierung, die gesamte Regierung wurde direkt gewählt, sie hatte auch großen Spielraum. Die Repräsentanten hatten die Pflicht, diese, für sie „fremde“ Regierung zu „beaufsichtigen“. Sie konnten die Regierung nicht absetzen. Sie konnten aber einen Volksentscheid veranlassen. Das Volk war dann gezwungen, über den Verbleib der Regierung zu befinden. Ansonsten hatte die Regierung durchzuhalten und ihre Arbeit zu tun. Zurücktreten durfte nur, wer den Kopf unter dem Arm hatte. Regierungsverantwortung ist bei uns zur Regierungspflicht geworden.
Jeder Repräsentant (Region oder Staat) mußte sich in jedem Quartal einem Audit unterziehen. Das war eine dreitägige Veranstaltung, öffentlich bis in den letzten Winkel übertragen, auf der er Rede und Antwort stehen mußte. Jedermann gegenüber. Dafür wurde er bewertet. Damit wurde ein Leistungsnachweis erstellt, der darüber entschied, ob er wieder­gewählt werden konnte. Und wenn es ganz schlecht für ihn lief, dann wurde er halt „freigestellt“.
Verstehe mich richtig, Rudi. Der Repräsentant war dem Gesetz und seinem Gewissen gegenüber verantwortlich. Genau diese Gewissensentscheidung aber mußte er auch verteidigen können.
Das ganze lief natürlich über Internet, wie denn sonst. Jeder konnte da seine Punkte vergeben. Zum „Freistellen“ war aber schon ein Quorum nötig, und nur die Wahlberechtigten konnten das. Punkte vergeben an sich konnte aber jeder.
Und der Typus des Repräsentanten? Selbstverständlich war das ein Berufspolitiker. Und klar hatte der eine Partei hinter sich. Wer sonst hätte die ganze „Auditerei“ auf sich genommen. Allerdings mußte es schon jemand sein, der ein gewisses Format hatte, was sich durch das Auditsystem bei vielen auch erst entwickelte, entwickeln konnte, entwickeln durfte (Wir wurden nämlich immer geduldiger und unaufgeregter, was dann auch die Pleite der BILD-Zeitung sehr schnell herbei­führte). Sich im Schatten einer Partei nach oben schleichen oder als Parteisoldat, daraus wurde ja nichts, der persön­lichen Verantwortung im Audit wegen. Leitungsfähigkeit war schon vonnöten. Die vor hundert Jahren üblichen „Kollegen der Parlamentswerke GmbH & Co. KG“, die ihre Legislaturperioden verlängern wollten, um besser „vernetzt“ zu sein, die kamen nicht mehr weit.
Was sagst Du, Rudi? Die BILD-Zeitung kennst Du gar nicht. Die findest Du im Museum. Sie steht mit zwei anderen Zeitungen dort in einem gasdichten Behälter: „Der Stürmer“ und „Völkischer Beobachter“, Gasdicht ist der Behälter, damit kein Museumsbesucher durch den Pesthauch, der von den Exponaten ausgeht, Schaden nimmt. Ist so etwas wie der Fluch des Pharao.
Hinzu kam für unseren Unternehmerstaat noch ein jährliches Audit für die großen Projekte. Jedes Jahr wurde einmal über den Fortschritt befunden. Und es ist durchaus vorgekommen, daß Projekte abgebrochen wurden. So wurde einmal eine ganze Reihe von Großflughäfen, die den Luftverkehr eigentlich durch Bündelung reduzieren sollte, nach drei Jahren wieder „gekippt“. Das lief nicht so wie es hätte sollen. Wer lernen will, der muß eben auch Lehrgeld bezahlen.
Gewählt wurde regelmäßig alle zwei Jahre: einmal die Regionen für vier Jahre, einmal im Staat für vier Jahre (einschließ­lich Regierung). Und einmal im Quartal halt die „Überprüfung des Leistungsstandes“. Hier war und ist immer etwas los.
Die siehst, Rudi, es wurde keineswegs einfacher. Weder für die Gewählten, noch für die Wähler. Aber das ist nun einmal so: „Ohne Schweiß kein Preis“. Die Zappeligen unter den Repräsentanten, die immer nur auf das nächste Audit hinarbei­teten, die überlebten selbst die erste Runde nicht. Und die Wähler, die meinten, mit dem Dartpfeil auf die Scheibe werfen, das wäre es gewesen. Nun, die waren, was sie schon immer waren: lustige Zeitgenossen. Mitentschieden haben die gar nichts. Am leichtesten tun sich bei uns die Gelassenen. Sie sind immer aufmerksam dabei, sie verfolgen das Geschehen. Aber sie überschlafen auch ihre Entscheidungen. Und wenn sie meinen, es wäre besser, nicht zu entscheiden, dann tun sie eben genau das.
Ein sehr wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang noch die Informationsbörse. Die haben wir jedem Menschen zugänglich gemacht, per Internet bis ans Bett. Da war wirklich alles drin. Jeder konnte zu jeder Zeit auf alle Informationen zugreifen (Früher hieß das einmal Kaizen, war gedacht für den Industriebetrieb; hat nie richtig funktioniert, weil jede Knallcharge „Herrschaftswissen“ für sich behalten wollte; jetzt wurde damit ernst gemacht).
Das ganze „Volksleben“, will sagen: Das politische Leben, ist in den letzten hundert Jahren viel leiser, viel gelassener geworden. Jeder weiß, daß an dem Sprichwort: „Es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird“ etwas dran ist. Jeder kann regelmäßig in das Geschehen eingreifen, jeder kann sich jederzeit informieren, aber jeder muß sich auch mit jedem verständigen können.
Eines ist da noch. Wenn die Selbstverwaltungseinheiten, die Regionen, doch so gut funktionierten, was sollte dann der Staat noch? Weißt Du, Rudi, ein Staat lebt durch sein Staatsvolk. Wenn das sich so versteht, dann ist er da. Mehr steckt nicht dahinter. Entweder hast du ein Vaterland oder du hast keines.

Und wie ging das alles über die Bühne, wie habt ihr das hingekriegt?

Schnell und einfach ging das. Der erste Schritt war, den Menschen in unserem Land aufzuzeigen, ja ihnen nur einmal kurz, blitzartig vor Augen zu führen, was die Gutbürgerlichen angerichtet hatten. Die hatten nämlich eine neue Unter­schicht der Sklavenarbeiter erfunden, die Leiharbeiter. Allederdings hatten sie dabei den gleichen Fehler gemacht, den alle selbsternannten Herrenmenschen machen. Sie hatten sich von ihren Sklaven abhängig gemacht.
In unserem Fall war das so: Die Leiharbeiter hatten die gesamte Logistik in der Hand. Dort lief nichts mehr ohne sie. Und Logistik, das ist das Ding, mit dem man der Wirtschaft einfach den Stecker ziehen kann. Haben wir auch gemacht. Allein die Aussicht auf nur sieben Tage Ausfall der Leiharbeiter – die sich plötzlich an einem Montag etwas unpäßlich fühlten –, machte allen klar, was hier los war. Schon am zweiten Tag waren die Lebenmittelmärkte leer und die Leiharbeiter wieder genesen.
Das war eingentlich nichts weiter als eine kurze Demonstration. Ohne echte nachhaltige Wirkung. Aber die Gutbürger­lichen waren dadurch vollkommen aus der Spur gebracht. Das Damoklesschwert der Ohnmacht schwebte über ihnen. Sie hatten zwar selbst immer gewußt, daß das mit den Leiharbeitern so nicht gut gehen konnte. Mir hatte einmal ein gutbür­gerlicher Arzt (also kein Heiler wie wir ihn verstehen) gesagt: „Wie, Herr Schrat, Sie sind Leiharbeiter! Aber da müssen Sie doch immer für andere (die Verleiher) mitarbeiten. Das ist doch nichts.“ Er hatte Recht. Nur begriffen hatte er nichts.
Es war eine Zumutung, stets ein dickes, nach seiner Flasche schreiendes Kind mit sich herumzutragen. Die Leiharbeiter­genossenschaft war die erste, die wir geschaffen haben. Der Rest ging eigentlich von allein.
Und ansonsten haben wir halt das ganze System da ausgehebelt, wo es am einfachsten war. Die Parteienlandschaft wurde um eine Partei erweitert, um den Fuß in die Tür zu kriegen. Wir haben die Vaterlanspartei gegründet. Denn genau darum ging es: Das eigene Vaterland neu aufzubauen. Wer von anderen etwas erwartet, der muß halt erst einmal vor der eigenen Türe kehren. Der muß halt erst einmal sein eigenes Haus bestellen.
Aber dieses Wort „Vaterland“. War das denn nicht verboten? Ich kann mich nicht daran erinnern. Es hätte mich auch nicht gestört. Das ganze politische Leben damals bestand fast nur noch aus Denkverboten und Denkverbotinnen. Klar gab es da die eine oder andere hochgezogene Augenbraue, ordentlich hochgezogen sogar. Aber die kam auch wieder runter. Wie schon gesagt: Entweder hast du ein Vaterland oder du hast keines. Punkt.
Und in genau diesem Stil lief die ganze Sache weiter. Es kam nicht so sehr auf neue Gesetzgebung und ähnliches an. Viel wichtiger war es, all denen Gehör zu verschaffen, die bis dahin in die Ecke der „Spinner“, der „Geht aus Sachzwang­gründen nicht“, der „Geht aus politischer Rücksichtnahme nicht“ und der „Geht nicht aus ?????“ gestellt worden waren. Dazu gehörten auch die „Experten“. Bei uns durften sie mitmachen. Vorne, wenn sie wollten. Sie waren nicht mehr nur Kofferträger brunzdummer Bürgerthaler.
All die Veränderungen im Energiebereich, die ich Dir beschrieben habe, die brauchten im wesentlichen gar nicht erfunden zu werden. Die Herrschenden hatten, in guter kapitalistischer Tradition, jeder Innovation den Weg versperrt, die ihre Pfründe hätte auch nur ansatzweise gefährden können. Nun, deren Lobbyisten wurde einfach nur den Zugang zur politischen Führung verwehrt. Sie klingelten Sturm an der Tür, aber sie wurden nicht mehr eingelassen. Oder gaubst Du, ich hätte jemals auch nur einen Fuß in das KDF-Werk in Fallersleben gesetzt.?
All die anderen aber, die haben wir uns angehört. Lange und geduldig. Auch die ganz verschrobenen. Warum auch nicht. Zeitdruck dann zu erzeugen, wenn es auf Genauigkeit, wenn es auf wirklich bedeutungsvolle Veränderungen ankommt, ist eher weniger zielführend, um eine Floskel aus der Zeit zu gebrauchen.
Wir haben es Menschen ermöglicht, hochzukommen. Nach eigenem Glück zu streben. Und wenn die sich halt als etwas Besseres, wenn die sich halt als Elite verstanden, dann war es auch gut. Der zum Beipiel mit dem ersten neuen Auto (die Modellreihe „El Furioso“, vom Kleinwagen bis zum Transporter), der hat auch eine absolut elitäre Hochschule gegründet. Noch heute sehen die sich dort als „King of the road“. Na und! Wir waren nicht die mit dem Neidkomplex. Dem richtigen Neidkomplex der Gutbürgerlichen: Bloß niemanden hochkommen lassen. Das gefährdet nur die eigene Macht. Das verhindert aber auch jede Verbesserung. Und die Gefahr neuer Herrschaftsklassen, nun die haben wir ja anderweitig abgewendet. Wer keinen direkten Zugriff auf die Menschen hat, der beherrscht sie auch nicht.
Im übrigen: Wer gehen wollte, vor allem solche aus den Reihen der mittelständisch mittelmäßigen (Erben-) Unternehmern, der konnte gehen (wir waren sogar froh darüber). Die konnten mitsamt ihrem Hofstaat, mitsamt ihrer Stammbelegschaft gehen. Die konnten auch ihr Geld mitnehmen. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Die Welt war vielleicht doch zu groß für sie.
Übrigens: Es wurde eine neue Verfassung gemacht. Die alte zu flicken reichte nicht. Hat nur einen Sommer gedauert.
Und Europa und die Welt? Haben die denn nicht geschimpft oder sogar mit dem Fuß aufgestampft? Weiß ich nicht mehr. Ich hatte nicht hingehört. Doch haben sie wohl, aber wir haben ihnen halt einfach nicht mehr dreingeredet, wie das bis dahin immer so war. Die sollten nicht so werden wie wir. Wir wollten uns selbst neu „aufstellen“, wie man das so sagte. Und solange wir uns um uns selbst kümmerten, solange waren die anderen auch beruhigt.

Das ist die Lektion: Gordischer Knoten gefunden – und gelöst!

Nur diese wenigen Kernpunkte reichten völlig aus, um den Neustart auszulösen. Es war kein objektives Problem, das es zu lösen galt. Rudi, das sollst du erkennen. Der berühmte Gordische Knoten, den keiner lösen und den nur irgendein Superheld durchschlagen konnte. Diesen Knoten gibt es gar nicht. Und wenn, dann höchstens im Kopf. Und wenn Du ihn da vorfindest, dann lasse ihn einfach nach unten gleiten, setze dich hin, entspanne  – und laß ihn fallen (Spülung drücken nicht vergessen). Gegen die Schwerkraft hat auch solch ein Knoten keine Chance.
Nur die Bürgerthaler, die immer noch an ihrem Zug standen, die wollten einfach nicht gehen. Niemand hätte sie auch haben wollen. Da haben wir ihnen um ihren Zug herum ein Reservat gebaut. Da sollten sie nach ihrer Façon glücklich werden. Wurden Sie aber nicht. Und sie sollten uns noch einmal mächtig gewaltig auf den Geist gehen. Einmal noch.

Das Ende der Bürgerthaler

Eine Generation lang hatten wir von denen nichts mehr gehört. Aber dann! Und fast hätten wir dabei vergessen: Gelas­senheit statt Aufgeregtheit! Lieber dreimal nachdenken! Doch eines nach dem anderen.
Die ersten Jahre hatten die Bürgerthaler ja in ihrem Reservat noch die Erforschung des Landes hinter der sanften Kuppe ganz oben auf der Agenda. Aber dann hatten sie dazu keine Lust mehr und wollten zurück zu ihren Wurzeln.
Sie fingen all die Spiele von früher wieder an zu spielen. So spielten Sie „Fördern und Fordern – Wir hartzen uns zu Tode!“ Das war das Erklimmen eines sanduhrförmigen Turmes (so ein Kühlturm). Immer wenn man mitten drin auf der Strecke in der Luft hing, dann wurden von oben die Kletterseile gekappt.
Ein anderes Spiel war „Flexible Arbeitsordnung – Wir telefonieren mit der SS!“ So hatten das ihre Vorfahren gemacht. Immer wenn sie Arbeiter brauchten, haben sie bei der SS angerufen. Die hatten wirklich die alten Telefonnummern wieder aktiviert! Das ging uns dann so langsam ganz gewaltig auf die Nerven.
Als sie aber anfingen, „Selektion an der Rampe“ zu spielen, da war das Maß voll. Wir stellten diese Dreckschweine zur Rede. Die antworteten aber nur in rotzfrecher Proletenart: „Na und! Wir sind doch jetzt Demokraten!“. Der mir das erwi­derte, denn wollte ich auf der Stelle erschießen.
Es waren aber die ganz alten, besonnenen Waldschrate damals dabei. Die haben uns mittelalte Schrate daran gehindert, einfach nachzuholen, was 1945 versäumt worden war. So haben wir in drei Tagen und Nächten die ganzen „Werke“ der Bürgerthaler niedergebrannt, daß noch nicht einmal Ruinen übrigblieben. Danach haben wir uns erst einmal zurück­gezogen und beraten.
Was sollten wir mit denen machen? Denn die anderen Staaten um uns herum hatten sehr genau hingesehen, was wir da so trieben. Sie hatten schon Angst vor einem Bürgerthalerkrieg bei uns. Traditionsgemäß, um es einmal so zu umschrei­ben, hätten wir den garantiert „exportiert“. Sie hatten nämlich vor allem Angst davor, daß wir ihnen die Bürgerthaler hinüberjagen würden.
Aber die mußten weg! Also kamen wir auf die Idee, sie in der Antarktis anzusiedeln. Aber als ich sah, wie die Pinguine in Tränen ausbrachen, als wir unseren Wunsch vortrugen, da erbarmte es mich. Ich konnte einfach nicht so Gottes Schöp­fung schänden.
Dann kam einer unserer ältestens Schrate auf die Idee: „Make Love! Not War!“ Was war das? Hatte der alte Tattergreis sich wieder an die Hippies erinnert, hinter seiner faltigen Stirn? Nein. Was der da sagte war genial. So läuft das immer in der Evolutution der Menschen, auch der schratigen. Eine Art verschwindet sicherlich zum Teil durch Inzucht. Vor allem aber durch Aufgehen in einer anderen. Es bleibt dann halt immer ein Rest im Genpool (wie von den Neanderthalern), aber die Art an sich ist verschwunden. Wir brauchten nur nachzuhelfen. Wir mußten die einfach nur gezielt verkuppeln. Und die Bürgerthaler, die das nicht wollten, die konnten ja gern auf die Ergebnisse der Inzucht warten.
Für uns Schrate kam das aber ganz und gar nicht in Betracht. Gott sei Dank sind wir ja von unserer ganzen Art die Häß­lichkeit in Person (dicke Nase mit Warze darauf und so). So ging dieser Kelch an uns Schraten vorbei.
Wir haben noch einmal richtig Geld in die Hand genommen und eine riesige „Romeofalle“ gebaut. Wir haben die Besten der Besten der Besten der Giggolos und Romeos weltweit angeworben. Wir haben sie fürstlich entlohnt. Sie waren echte Spezialisten. Sie waren Kapazitäten. Hut ab! Die haben die Weibchen der Bürgerthaler gleich in ganzen Hundertschaften verführt Die nächste Generation war zwar äußerlich etwas bunter als vorher, was ganz gut aussah. Innerlich, vor allem charakterlich aber war die schon um Klassen besser. Drei Generationen und der Drops war gelutscht!

Heute

Alles erledigt? Stehenbleiben gibt es in Gottes Schöpfung nicht; man kann sich nur ab und an etwas ausruhen. Du, Rudi, darfst dich noch nicht ausruhen. Daher zum Abschluß: Mein Vaterland, so wie ich es mir als junger Schrat in der Kobold- und Wichtelschule einmal ausgemalt hatte:
Mein Vaterland ist leise …
In meinem Vaterland da sind nur das Rauschen der Bäume im Wind
und das Lachen der Kinder laut
In meinem Vaterland da hören die Menschen einander zu
Mein Vaterland ist respektvoll …
In meinem Vaterland da achten die Menschen einander
und sie anerkennen des anderen Art
In meinem Vaterland da bedankt man sich
Mein Vaterland ist ehrenhaft …
In meinem Vaterland da bekennen sich die Menschen zu ihrer Schuld
und zu dem Leid, das sie anderen gebracht haben
In meinem Vaterland da bittet man
Mein Vaterland ist tapfer …
In meinem Vaterland sieht niemand weg,
wenn ein anderer bedroht wird
In meinem Vaterland da fürchtet man sich nicht
Mein Vaterland ist fleißig …
In meinem Vaterland da arbeiten die Menschen für ihren Erfolg,
sie wollen nicht auf Kosten anderer leben
In meinem Vaterland da ehrt man die Arbeit
Mein Vaterland soll Deutschland werden
Ich wünsche Dir ein friedliches, aber auch ein kraftvolles 2113.
Herzlichst, Dein Waldschrat.
Westfalen, am Jahresende 2112
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Politische Geschichte der Waldschrate in Deutschland“
Projekt: Die Relativität der Schrate – Schrate im Strom der Zeit
Autor: Peter Rudolf Knudsen

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